Weltwoche.ch Ausgabe 14/02

Wissen

Askese und Ekstase gehören zusammen
von Jürg von Ins

Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass asketische Regeln nur funktionieren, wenn aus dem Verzicht auch ein Gewinn erwächst. Was bringt die Zölibatsregel – ausser Unglück?

Jüngst wurde der Dekan von Walenstadt verhaftet. Er soll in Uznach über Jahre Kinder sexuell missbraucht haben. Auch sein greiser Amtsvorgänger hat sich inzwischen als Päderast geoutet. In den USA begann es damit, dass in Boston zahlreichen Priestern nachgewiesen wurde, dass sie Sex mit (ihnen anbefohlenen) Knaben gehabt hatten. Seither werden immer häufiger solche Fälle bekannt, und der Horror wurzelt in ihrer stereotypen Perversität. Dabei handelt es sich, wie es scheint, nur um die Spitze eines schauderlichen Eisbergs aus Frustration und sexueller Gewalt. Ist die Kirche noch zu retten? Der Vatikan ist in Not. Was denken? Was tun? Vielleicht lohnt es sich, das moralische Urteil für einen Augenblick zur Seite zu stellen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Obwohl es schwierig ist, eine Analyse zu wagen, solange man emotional verstrickt ist, drängen sich Fragen auf: Wie weit geht die persönliche Verantwortung des Täters? Welche Rolle spielen soziale und biologische Zwänge? Und welche Konsequenzen ergeben sich für die katholische Kirche?

Das Zölibat hat aus heutiger Sicht vor allem mit Mangel zu tun. Aber die Priester sind mit ihrem Mangel nicht allein. Fast jedem fehlt etwas zur vollen Deckung aller biologischen Bedürfnisse: bald Bewegung, bald Essen, bald Sex. Die stabile Persönlichkeit kann damit umgehen, kann Befriedigung aufschieben und die eigene Bedürftigkeit denkend objektivieren. Doch Stabilität hat Grenzen.

Etwas ganz anderes sind Rituale der Askese. Viele Religionen haben aus der Not eine Tugend gemacht. Durch Fasten, regloses Verharren in absurden Körperstellungen oder Verzicht auf sexuelle Befriedigung erreichten Asketen aller Couleur aussergewöhnliche Bewusstseinszustände. Sie schauten Himmel und Hölle und erkundeten die Tiefe des Selbst. Glaubenssystem und Ritual sorgten dafür, dass ferne Welten symbolische Gestalt annahmen – und dass der Weg eher in den Himmel als in die Hölle führte. Grosszügig wurden viele Asketen mit Ekstase und Visionen für ihre Entbehrungen entlöhnt. Fortan waren für sie die Entbehrungen keine Entbehrungen mehr, sondern Teil einer ekstatischen Übung, eine Art Halluzinogen. Askese zeigt sich in fast allen Kulturen als Überschreitungsritual. Indes: Das Ritual kann zerfallen zur blossen Regel, die lange noch Leiden am Mangel erzwingt, obwohl der Lohn ausbleibt. Das asketische Ritual reduziert sich zum Gehorsam gegenüber der Regel; zum gesellschaftlich verordneten Darben.

Die Ehelosigkeit christlicher Amtsträger beruhte bei den Urchristen lediglich auf individueller Berufung – es ging auch ohne. Spätere Theologen orientierten sich am Paulus-Wort, dass es für den Mann gut sei, kein Weib zu berühren. Nur wer’s nicht schafft, soll halt heiraten. «Denn es ist besser, zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren.»

Vegetarismus oder Kastration

Als Ritual der Ehelosigkeit zielte ursprünglich auch das Zölibat auf Schau und Verwirklichung einer anderen Welt: auf die Welt der allumfassenden Liebe. Vielleicht war die ursprüngliche Idee: Der Priester liebt im Grund alle und heiratet nur deshalb keine. Doch längst hat sich das Zölibat zur asketischen Regel gewandelt, die auf Keuschheit zielt. Wenn dabei vorausgesetzt wird, dass der Priester seine Sexualität ohnehin überwunden hat, ist die Latte zu hoch angesetzt. Denn asketische Regeln dieser Art sind zwar aus vielen religiösen Traditionen bekannt, doch wird die Regel – wo sie gut gemacht ist – mindestens durch Massnahmen zur Dämpfung der Entzugserscheinungen begleitet. Das heisst: Eine sinnvolle Regel ist eine, die man aufgrund seiner psychophysischen Verfassung überhaupt einhalten kann.

Es gibt also vernünftige Regeln für das Aufstellen gesellschaftlich verbindlicher Regeln. Dazu gehört die religionspsychologische Erkenntnis, dass man natürliche Bedürfnisse zwar unterdrücken kann, dass aber der dadurch anfallende Stau irgendwie umgeleitet, abgeleitet oder transformiert werden muss. Sonst bilden sich notwendigerweise Phänomene wie die dämonischen Besessenheiten ganzer Nonnenklöster im 17. Jahrhundert oder die epidemische Päderastie unter zeitgenössischen Priestern. Über die moralische und die strafrechtliche Dimension solcher Erscheinungen hinaus ist darauf hinzuweisen, dass Regeln, die laufend übertreten werden, schlecht gemacht sind.

Prophylaktisch wird zum Beispiel in buddhistischen Klöstern Diät eingesetzt. Vegetarische Kost führt zu einem Mangel an Vitamin B. Wie bei Alkoholikern wird dadurch auch bei buddhistischen Mönchen das sexuelle Verlangen gedämpft. Lohnende Ziele steckt überdies insbesondere die Meditation. Das wollende und wünschende Ich rückt auf Distanz. Ich- und leidfreie Formen des Bewusstseins sind zu entdecken – Welten, von denen der gewöhnliche Mensch nichts ahnt. Der hat dafür Sex, denn «Sex is the poor man’s meditation».

Kirchengeschichtlich sind auch härtere Methoden als Diät und Meditation belegt: Die russische Sekte der Chlysten, die im 17. Jahrhundert auftauchte, lehrte, dass jeder Mann Christus und jede Frau Gottesmutter werden kann, wenn erst die Sünde aus dem Fleisch herausgepeitscht ist. Sie peitschten sich im Gottesdienst halb tot und fielen danach in wilder Promiskuität über einander her. Sie zeugten Christusse und Gottesmütter zuhauf. Von den Chlysten spalteten sich später die Skopzen ab, die das Problem von der anderen Seite her angingen: Statt sich immer weiter auszutoben, überwanden sie den Sexualtrieb definitiv durch Kastration, denn sie hatten bei Matthäus gelesen: «Es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Reiches der Himmel willen.» Als chirurgische Werkzeuge wurden Äxte und glühende Eisen eingesetzt. Hoden, Penisse, Schamlippen, Klitoride, Brustwarzen und ganze Brüste kamen unters Messer. Die Lieder der Skopzen, die zum Blutbad gesungen wurden, waren von Jubel und Freude erfüllt. Endlich war die Sünde wegoperiert und der Himmel nah. Endlich war das Problem gelöst.

Meist ging man scheinbar zarter vor, indem man Regeln erliess. Indes: Wird eine asketische Regel weder durch lindernde Massnahmen unterstützt noch durch Ekstase belohnt, verkommt sie zur blossen Gehorsamsübung; zum erst freiwilligen, dann gewohnheitsmässigen Leiden. Aber die Leidenschaften lassen sich nicht einfach verdrängen. Sie suchen Befriedigung und nehmen sie sich periodisch, so gut es eben geht – auch wenn nur unkultiverte, desozialisierte Formen zur Verfügung stehen. Askese und Ekstase gehören zusammen wie Arbeit und Feierabend. Nur in Rhythmen lässt sich Bewusstsein kultivieren. Der Mensch ist ein Wasserball: Je tiefer man ihn unter die Oberfläche drückt, desto höher springt er auf. Es ist sowohl im individuellen als auch im sozialen Interesse, angemessene Rhythmen des Lebens zu kultivieren. Das ist lohnender und weniger gefährlich jedenfalls als jede Versteifung auf die eine Hälfte des Systems und die Angst vor dem nächsten Anfall. Denn scharf kontrastierend zu jeder Prohibition ist die Kultivierung angemessener Lebensrhythmen ein Weg zu Selbstkontrolle und Selbstverantwortung. Und zwar ziemlich sicher der einzige.

Jedes Kind kennt einen Witz über den Priester und seine Haushälterin. Die europäische Literatur- und Filmgeschichte wäre arm, müsste sie auf das Motiv des erotisch ausrutschenden Priesters verzichten. Es ist entsprechend unerklärlich, dass solche Phänomene bis heute immer wieder lediglich als Einzelereignisse und persönliche Verfehlungen thematisiert werden. Gewiss – es gibt die persönliche Verantwortung, aber es gibt auch das System, das Störungen produziert. Die Übertretung ist programmiert wie ein Refrain – ohne symbolisches Geländer, unkontrollierbar, immer gleich und doch in beliebig bizarrer Form. Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um ein Leitmotiv der katholischen Kirchengeschichte.

Für jene, die unter dem Druck des äussersten Mangels die Regel brechen, steht kein Himmel mehr offen, und an Erleuchtung ist nicht zu denken. «Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden», schrieb Nietzsche. Doch solche bewusstseinsformende Betrachtungsweisen gewinnen ihre Kraft erst durch soziale Bestätigung, und darin wurzelt die Verantwortung der Kirche für das Fehlverhalten der Priester. Diese sind über ihre persönliche Verantwortung hinaus auch Opfer einer absurden Regel. Denn dass die Störung sozial verordnet ist, zeigt sich schliesslich in ihrem epidemischen Auftreten.

Der Weg führt für alle Beteiligten stracks in die Hölle, denn geknechtet durch extremen Mangel, kennt der Mensch keine soziale Rücksicht. Die Fähigkeit, Triebbefriedigung aufzuschieben, bricht angesichts des drohenden Untergangs ein. Wenn der Verdurstende Wasser sieht, nimmt er es sich, und man wird ihn verstehen. Schliesslich wissen die Philosophen seit je, dass es kein ethisches «Sollen» jenseits des praktischen «Könnens» gibt. Ruchlosigkeit bricht sich die Bahn, und oft bezahlen Unschuldige den überfälligen Lohn.

Wer den Limes der Regel überschritten hat, steht ausserhalb seiner Gesellschaft und seiner Kultur: ohne Navigation, ohne Wertorientierung und Mass. Ni Dieu ni mètre. Hier gibt es keine Normalität und entsprechend auch keine Perversion. Alles ist ohnehin falsch, also kommt’s nicht drauf an, ob Frauen, Männer, Kinder, Tiere oder Früchte gevögelt werden. So muss man sich diesen Bewusstseinszustand vorstellen: als dissoziative Störung – und hausgemacht.

Ohne persönliche Verantwortung gibt es kein friedliches Zusammenleben. Persönlich sind Priester etwa dafür verantwortlich, dass sie sich der Regel unterzogen haben. Aber persönliche Verantwortung findet ihre Grenzen an sozialen und biologischen Zwängen. Die Kirche ist mitverantwortlich für das, was die Regel aus den Priestern gemacht hat. Die Neurowissenschaften haben es buchstäblich bewiesen: Wir sind begrenzt, wir unterliegen Zwängen, und eben damit müssen wir intelligent umgehen lernen. Daher lohnt sich das weitere Nachdenken über die Fragen: Kann ein Mensch, der sozialen oder biologischen Zwängen erliegt, für sein Handeln verantwortlich gemacht werden? Und: Kann das Problem nachhaltig gelöst werden, indem die Zwänge aufgehoben, aufgeweicht, verwandelt werden?
Dazu ein Hinweis: Nicht nur im Judentum, im Islam und bei Luther wird die Ehe als Kulturform der Sexualität par excellence hochgehalten. Auch Bischof Ivo von St. Gallen kann sich ein Priesteramt ohne Zölibat vorstellen. Die Lage ist also trotz allem nicht ganz hoffnungslos. Rituale lassen sich abändern, wiederentdecken und entwickeln. An Möglichkeiten mangelt es nicht. Die schlichte Aufhebung der Zölibatsregel wäre nur eine davon.

 

Giovi's Kommentar:

Nun bleibt also die Frage, ob die Kirche einen Weg findet und ihre Rolle hier genau überdenkt! Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen und nich ständig nur über alte Regeln zu faseln und zu behaupten, es sei schon immer so gewesen. Das stimmt sowieso nicht. Die Kirche hat sich in den letzten 2000 Jahren immer wieder verändert und neue Regeln eingeführt, so sollte sie sich auch jetzt weiter verändern und erkennen, welche Regeln sinnvoll sind und welche nicht, bzw. abgeändert werden müssen.

Letzte Aktualisierung:
Thursday, 04. April 2002, © Giovi M. Caelli
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